Ich trinke keinen Rotwein mehr – ich genieße ein Glas.
Über die neue Tugend des Verzichts und die leise Kunst des Genießens
Die moderne Askese hat Stil – und einen Sendungsauftrag. Alkohol? Allenfalls zur Desinfektion. Genuss? Ein unkalkulierbares Risiko.
Wer heute etwas auf sich hält, verzichtet. Öffentlich, konsequent – und gerne mit wissenschaftlichem Unterbau. Studien zur Langlebigkeit liefern den passenden Beipackzettel, unter dessen Deckmantel sich eine neue Bewegung formiert: Verzicht als Statussymbol.
Nehmen wir den Rotwein – einst Ausdruck kultivierter Lebenskunst. Heute wirkt er moralisch vorbelastet.
„Ich trinke keinen Alkohol mehr“ heißt es selbstbewusst auf Social Media – meist begleitet von Bildergeschichten der Selbstoptimierung und des neuen, besseren Lebens.
Ich hingegen finde mich gelegentlich bei einem Glas Primitivo wieder. Und fühle mich dabei ziemlich gut.
Mit Maß – das ist entscheidend.
Aber wie misst man eigentlich Maß?
Für mich beginnt es mit einer ehrlichen Sprache – mir selbst gegenüber. Ich trinke nicht einfach Wein.
Ich genieße ein Glas. Bewusst. 0,1 Liter. Wird der Abend länger, die Gespräche tiefer, erlaube ich mir ein zweites. Dazwischen trinke ich Wasser. Ohne Zwang. Ohne Rechtfertigung.
Heute verzichtet man nicht mehr still – man verkündet es.
Kein Alkohol seit Januar! Kein Zucker seit 120 Tagen! Kein Weißbrot seit dem letzten Abendmahl!
Das klingt nach disziplinierter Abstinenz. Ist aus meiner Sicht aber oft ein Ruf nach Kontrolle von außen – oder ein Hilferuf zur eigenen Disziplin.
Schlechter Schlaf durch Alkohol - ja - oder: Beziehungsstress. Chips beim Tatort. Zu viel Sport. Oder schlicht die Tatsache, dass man nachts wachliegt und versucht, elegante Geschichten für sein eigentliches Problem zu erfinden.
Genuss braucht keine Bühne. Er funktioniert sehr gut leise. Unauffällig. Persönlich
Ein Stück dunkle Schokolade zu einem guten Glas Rotwein. Kein Rückfall, kein Drama. Kein Beichtmoment.
Einfach ein Moment. Für mich. Und es kribbelt auch ohne Likes.
Die permanente Bewertung von Essen und Trinken durch die Brille der Selbstkontrolle mag funktionieren – aber sie verengt. Die wahre Kunst des Genießens liegt für mich in der bewussten Auswahl besonderer Momente:
Das vielschichtige Bouquet eines Rotweins mit der Nase erfassen. Das Knacken einer frischen Breze. Der bittere Schmelz dunkler Schokolade, der sich langsam auf der Zunge entfaltet.
Zum Thema Zucker - Ich esse übrigens keine Breze zwischendurch.
Aber am Wochenende gönne ich mir eine. Mit Butter.
Weil es dann wirklich etwas bedeutet.
Die eigene Genussbalance zu finden, braucht Zeit.
Sie ist nie 50/50. Aber wenn man sie gefunden hat, tut sie seiner Gesundheit besser als man denkt.